Srinivasa Ramanujan (1887-1920)


Ramanujan stammte aus Tamilnadu, dem südlichsten Teil Indiens, und studierte aud der Highschool etwas Mathematik. Eines Tages schenkte ihm jemand, der sein mathematisches Talent erkannt hatte, ein etwas veraltetes Lehrbuch der Analysis, das Ramanujan, bildlich gesprochen, verschlang. Dann begann er, auf eigene Faust Streifzüge ins Reich der Analysis zu machen, und im Alter von 23 Jahren hatte er eine Reihe von Entdeckungen gemacht, die ihm bedeutsam erschienen. Er wusste nicht, an wen er sich wenden sollte, hörte aber etwas von einem Mathematikprofessor namens G.H. Hardy im fernen England. Ramanujan stellte seine besten Ergebnisse zusammen und schickte das ganze Paket mit einem Brief, den er mit Hilfe von Freunden auf Englisch abfasste, dem ahnungslosen Hardy. Nachstehend einige Auszüge aus Hardys Beschreibung seiner Reaktion, als er das Paket erhielt:
... Es war mir bald klar, daß Ramanujan noch weit allgemeinere SÄTZE in seinem Besitz haben musste und das er manches zurückhielt ... [Einige Formeln] erschlugen mich regelrecht; ich hatte zuvor nichts auch nur im Entferntesten Ähnliches zu Gesicht bekommen. Ein einziger Blick darauf genügte, um zu erkennen, dass nur ein Mathematiker allerhöchsten Ranges sie niedergeschrieben haben konnte. Sie mussten wahr sein, denn wären sie das nicht gewesen, so hätte kein Mensch die Phantasie besessen, sie zu erfinden. Schließlich ... musste der Verfasser absolut ehrlich sein, denn große Mathematiker sind häufiger als so unglaublich begabte Diebe und Scharlatane."

Das Ergebnis dieser Korrespondenz war, dass Ramanujan auf Hardys Einladung 1913 nach England kam, und darauf folgte eine intensive Zusammenarbeit, der Ramanujans früher Tod im Alter von 33 Jahren ein Ende setzte.

Ramanujan hatte verschiedene charakteristische Eigenschaften, die ihn von der Mehrheit der Mathematiker unterschied. Eine war der Mangel an Strenge. Sehr oft gab er einfach das Ergebnis an, das, wie er betonte, ihm aus einer unbestimmten Quelle der Intuition weit jenseits des Bereichs der bewussten Forschung zufloss. Er behauptete oft, dass die Göttin Namagiri ihn in seinen Träumen inspiriere. Das Geschah immer wieder, und was alles noch geheimnisvoller machte, ja der ganzen Angelegenheit eine gewisse mystische Note verlieh, war die Tatsache, dass viele seiner "Intuitions-SÄtze" falsch waren. Nun gibt es einen merkwürdigen, paradoxen Effekt, nämlich dass manchmal ein Vorgang, der, wie man meinen möchte, leichtgläubige Menschen etwas skeptischer machen müsste, tatsächlich die umgekehrte Wirkung hat, indem er den Leichtgläubigen an einem empfindlichen Punkt seines Denkens trifft und ihn mit dem Wink beunruhigt, dass es eine geheimnisvolle irrationale Seite der menschlichen Natur gibt. Das war auch der Fall mit Ramanujans Schnitzern: viele gebildete Leute, die eine gewisse Sehnsucht verspürten, solche Dinge zu glauben, betrachteten Ramanujans intuitive Kräfte als Evidenz für einen mystischen Einblick in die Wahrheit, und die Tatsache seiner Fehlbarkeit schien den Glauben zu verstärken und nicht abzuschwächen.

Natürlich schadete es nicht, dass er aus einem der rückständigsten Gebiete Indiens kam, in denen das Fakirwesen und andere Riten jahrtausendelang praktiziert wurden und noch immer praktiziert werden - wahrscheinlich in einem weit größeren Maß als höhere Mathematik. Und seine gelegentlichen falschen Ergebnisse waren für viele nicht einfach ein Zeichen dafür, dass auch er nur ein Mensch war, sondern verleiteten paradoxerweise zu der Vorstellung, dass Ramanujan dort, wo er sich getäuscht hatte, so etwas wie eine "tiefere Richtigkeit" bewies - eine "orientalische Richtigkeit", die vielleicht dem westlichen Geist unzugängliche Wahrheiten berührte. Was für ein anziehender, fast unwiderstehlicher Gedanke! Sogar Hardy - der der erste gewesen wäre, Ramanujan mystische Kräfte abzusprechen - schrieb einmal über einen Fehler Ramanujans: "Und doch bin ich nicht sicher, dass in einem gewissen Sinn sein Versagen nicht wunderbarer gewesen ist als alle seine Triumphe."

Die andere hervorragende Eigenschaft von Ramanujans mathematischer Persönlichkeit war seine "Freundschaft mit ganzen Zahlen", wie sein Kollege Littlewood es nannte. Das ist eine Eigenschaft, die sich in verschiedenem Maß bei ziemlich vielen Mathematikern findet, die aber Ramanujan in besonderem Maß besaß. Es gibt einige Anekdoten, die die besondere Fähigkeit belegen. Die erste stammt von Hardy:

Ich erinnere mich, das ich ihn eines Tags besuchen ging, als er in Putney krank im Bett lag. Ich war in Taxi Nr. 1729 gekommen und erwähnte, dass mir diese Zahl ziemlich langweilig vorkäme und ich hoffte, das sei kein ungünstiges Vorzeichen. "Nein", antwortete er, "es ist eine sehr interessante Zahl, nämlich die kleinste Zahl, die sich auf zwei verschiedene Arten als Summe zweier Dreierpotenzen darstellen lässt." Ich fragte ihn natürlich, ob er die Antwort auf das entsprechende Problem für Viererpotenzen wisse, und nach kurzem Nachdenken sagte er, ohne weiteres falle ihm kein Beispiel ein, aber er glaube, die erste derartige Zahl müsste sehr groß sein.

Tatsächlich ist 13+123 =93+103 =1729 und 635318657=1334+1344 =594+1584.

Die zweite Anekdote ist aus der von seinem Landsmann S.R. Ranganathan verfassten Biographie, in der die Begebenheit als "Ramanujans Blitz" bezeichnet wird. Die Anekdote wird überliefert von einem indischen Freund Ramanujans aus seinen Cambridger Tagen, P. C. Mahalanobis:

Ein anderes Mal ging ich auf sein Zimmer, um mit ihm zu Mittag zu essen. Kurz zuvor war der erste Weltkrieg ausgebrochen. Ich hatte ein Exemplar der Monatsschrift "Strand Magazine" in der Hand, die damals eine Anzahl von Denksportaufgaben zu publizieren pflegte, die der Leser lösen sollte. Ramanujan rührte etwas auf dem Feuer für unsere Mahlzeit. Ich saß nahe am Tisch, blätterte in der Zeitschrift und begann, mich für ein Problem zu interessieren, das eine Beziehung zwischen zwei Zahlen zum Gegenstand hatte. Die Einzelheiten habe ich vergessen, aber ich entsinne mich der Art des Problems. Zwei englische Offiziere waren in Paris in zwei verschiedenen Häusern in einer langen Straße einquatiert. Die Hausnummern standen in einer besonderen Beziehnung zueinander; das Problem war, die beiden Zahlen zu finden. Schwierig war es keinesfalls; ich fand die Lösung nach ein paar Minuten des Herumprobierens.
MAHALANOBIS(scherzend): "Hier ist ein Problem für Sie."
RAMANUJAN: "Was für ein Problem?" (Er rührte weiter in seinem Topf.)
Ich las das Problem aus dem "Strand Magazine" vor.
RAMANUJAN: "Bitte notieren sie die Lösung." (Er diktierte einen Kettenbruch)
Der erste Term war die Lösung, die ich gefunden hatte, jeder weitere Term stellte sukzessive Lösungen für die gleiche Beziehung dar, wenn die Straße unendlich verlängert wurde. Ich war erstaunt.
MAHALANOBIS: "Kam Ihnen die Lösung blitzartig?"
RAMANUJAN: "Sobald ich das Problem gehört hatte, war mir klar, dass die Lösung offensichlich ein Kettenbruch war; dann dachte ich: welcher Kettenbruch? - und die Antwort fiel mir ein. So einfach war das."

Nach Ramanujans Tod wurde Hardy, der mit ihm am engsten zusammengearbeitet hatte, oft gefragt, ob ein Element des Okkulten oder sonst des Ausgefallenen in Ramanujans Denken gewesen sei. Hier einer seiner Kommentare:

Man hat mich oft gefragt, ob Ramanujan ein besonderes Geheimnis besessen habe, ob seine Methoden anders als die anderer Mathematiker gewesen seien, ob seine Denkweise nicht eigentlich abnorm gewesen sei. Ich kann diese Frage nicht mit Zuversicht oder Überzeugung beantworten, glaube es aber nicht. Vielmehr glaube ich, dass alle Mathematiker im Grunde in der gleichen Weise denken und dass Ramanujan keine Ausnahme darstellt.

Dann vergleicht Hardy Ramanujan mit mathematischen Wunderkindern:

Sein Gedächtnis und seine rechnerischen Fähigkeiten waren sehr ungewöhnlich, aber "abnorm" konnte man sie wohl nicht nennen. Wenn er zwei große Zahlen zu multiplizieren hatte, tat er das auf die übliche Weise; er konnte das mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit und Genauigkeit tun, aber nicht schneller und genauer als irgendein Mathematiker, der von Natur aus flink und ans Rechnen gewöhnt sind.

Was er als Ramanujans hervorstechendste intellektuelle Eigenschaft betrachtete, beschreibt Hardy wie folgt:

Mit seinem Gedächtnis, seiner Geduld und seiner rechnerischen Begabung kombinierte er ein Verallgemeinerungsvermögen, ein Gefühl für Form und eine Fähigkeit, seine Hypothesen rasch zu modifizieren, die oft wirklich verblüffend waren, so dass er in seiner Zeit auf seinem Gebiet ohne Rivalen war.

Hardy schließt etwas nostalgisch:

[Sein Werk] hat nicht die Einfachheit und die Zwangsläufigkeit von mathematischer Arbeit höchsten Ranges; es wäre größer, wäre es weniger exotisch. Er hat eine Gabe, die niemand ihm absprechen kann: tiefe und unbesiegbare Originalität. Er wäre vermutlich ein größerer Mathematiker geworden, wäre er in seiner Jugend an die Hand genommen und etwas gezähmt worden: Er hätte mehr Neues entdeckt und ohne Zweifel Wichtigeres. Andererseits wäre er weniger er selbst, Ramanujan, gewesen, sondern eher ein europäischer Professor, und der Verlust wäre vielleicht größer gewesen als der Gewinn.

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