Srinivasa Ramanujan Iyengar:
Aus Leben (und Werk) eines genialen Mathematikers.
Ein Gespräch.

Albrecht Beutelspacher


Dies ist ein Versuch, eine bedeutende mathematikgeschichtliche Gestalt, den indischen Mathematiker Srinivasa Iyengar Ramanujan, auf eine neue Weise zu vergegenwärtigen: durch ein Hörspiel. Dieses ist ein Gespräch zwischen zwei Personen. Die eine stellt Fragen: oberflächlich und präzise, einfühlsam und unangenehm; der nimmt diese Fragen auf, beantwortet sie manchmal, manchmal aber auch nicht.

Meine Hoffnung ist, daß es durch diese Form gelingt, direkter und schneller eine Person zu erfassen, die auch uns Mathematikern auf den ersten Blick völlig fremd zu sein scheint.


Personen:

Ich

Er (die auch eine Sie sein kann)

Ramanujan

Sprecher



Er: Rama . . . , Ra-ma-nú-jan.

Ich: Ramánadschan, genauer gesagt: Srinivasa Ramanujan Iyengar.

Er: Ein Mathematiker, ein reiner Mathematiker, der um die Jahrhundertwende lebte, zum Teil in Indien, zum Teil in England.

Ich: Einer der genialsten Mathematiker aller Zeiten, dessen Entdeckungen bis heute die mathematischen Forscher in Atem halten.

Er: Was soll das heißen? Haben seine Ergebnisse heute noch etwas zu sagen? Ist die moderne Forschung nicht darüber hinausgegangen? Oder ist Ramanújan, Entschuldigung: Ramánadschan, nicht fertig geworden? Oder sind seine Ergebnisse verschollen?

Ich: Alle ihre Fragen sind berechtigt. Um es ganz kurz zu sagen: Ramanujan hat nur einen winzigen Bruchteil seiner Einsichten veröffentlicht; die unveröffentlichten Ergebnisse sind in seinen Notizbüchern enthalten, . . .

Er: . . . denen man sie entnehmen kann. Was also fehlt, ist eine historisch-kritische Ausgabe seiner Werke!

Ich: Nein, es geht nicht um philologische Fragen, sondern um mathematische. Ramanujan hat nämlich in seinen Notizbüchern nichts bewiesen, und auch noch heute sind ganze Forschergruppen damit beschäftigt, seine Ergebnisse zu verifizieren.

Er: Aber warum . . .?

Ich: Das ist eine wichtige Frage, die ich nicht unterdrücken möchte. Aber lassen Sie uns ein bißchen systematischer vorgehen, dann wird vieles klarer.

Er: Also gut: Unser Held heißt . . .

Gemeinsam: Srinivasa Ramanujan Iyengar.

Er: Hat dieser Name eine Bedeutung? Gibt es Vor- und Nachnamen?

Ich: Srinivasa, der erste Teil seines Namens, ist einfach der Name seines Vaters; dieser wurde automatisch verliehen und nur selten benutzt. Der letzte Teil des Namens, Iyengar, ist dagegen der Name seiner Kaste, einem speziellen Zweig der südindischen Brahmanen, zu der er und seine Familie gehörten. Das heißt: Einer seiner Namen war der Name seines Vaters, ein anderer der Name seiner Kaste, nur Ramanujan war sein eigener Name. Später erklärte er einmal: "Ich habe keinen richtigen Nachnamen." Seine Mutter nannte ihn oft mit seinem Kosenamen Chinnaswami, das heißt "kleiner Herr". Aber sonst war er einfach - Ramanujan.

Er: Woher kam denn dieser Ramanujan? War er ein Wunderkind? Oder war er ein Spätentwickler? Wurde er von seinen Eltern mathematisch gefördert und wer waren seine mathematischen Lehrer?

Ich: Alles falsche Fragen. Ramanujan wurde nicht mathematisch gefördert, der einzige geistige Einfluß, dem er - allerdings massiv - ausgesetzt war, war der Einfluß der Religion.

Er: Ganz langsam! Wenn ich das richtig kapiert habe, wurde er in Indien geboren. Wenn ich an Indien denke, fallen mir Slums, Chaos und gewalttätige Auseinandersetzungen ein.

Ich: Ramanujan wurde im Jahre 1887 geboren, und damals war Indien fest in englischer Hand, Indien war eine britische Kronkolonie, die vom Vizekönig regiert wurde. Ramanujan wurde in Erode geboren und wuchs in Kumbakonam auf, beides Städte im tiefen Südindien, einem subtropischen Land, das von der Cauvery, dem heiligen Fluß Südindiens, bewässert und begrünt wurde.

Er: War Ramanujan religiös?

Ich: Ramanujan war Brahmane, gehörte also der obersten Kaste des Hinduismus an, stammte aber aus einer armen Familie. Ramanujan wuchs in einer intensiven religiösen Atmosphäre auf, die zu einem Teil seines Ichs wurde. In ihm waren die mathematische und die metaphyische Seite dicht beieinander und unentwirrbar miteinander verwoben. Seine religiöse Erziehung wurde im wesentlichen von seiner Mutter geleistet.

Er: Von der Mutter, nicht vom Vater?

Ich: Nein, der Vater spielte in der Familie kaum eine Rolle. Er war Angestellter in einem Seidengeschäft und verließ die Familie frühmorgens und kam erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause.

Er: Aber die Mutter war die ganze Zeit um ihn?

Ich: Ja, mit seiner Mutter Komalatammal verstand sich Ramanujan gut. Sie sprachen die gleiche Sprache und hatten die gleiche Gefühlswelt. Als er klein war, spielten die beiden gegeneinander "Tiger und Ziegen". Dieses Spiel wird mit Spielsteinen auf einem gitterförmigen Spielbrett gespielt. Drei "Tiger" trachten danach, 15 "Ziegen" zu töten, indem sie sie, ähnlich wie bei Dame, überspringen; demgegenüber ist es das Ziel der Ziegen, die Tiger einzukreisen, um sie bewegungsunfähig zu machen. Für das Spiel braucht man Logik, Strategie und scharfe Konzentration wie beim Schachspiel. Die beiden gingen in diesem Spiel auf.

Er: Offenbar wuchs Ramanujan als Einzelkind auf. Da besteht ja immer die Gefahr, daß die Eltern, in diesem Fall also die Mutter, das Kind über die Maßen dominiert.

Ich: Ihr Sohn war während seines ganzes Heranwachsens Komalatammals Hauptgegenstand. In Indien sind enge Beziehungen zwischen Mutter und Sohn legendär; die Beziehung zwischen Ramanujan und seiner Mutter muß aber so eng gewesen sein, daß selbst die indischen Biographen es für wichtig hielten, dies explizit zu erwähnen.

Komalatammal fütterte ihn mit Joghurt und Reis, mit pikant eingemachten Früchten, Gemüse und Linsensuppe. Sie kämmte sein Haar und faßte es zu dem traditionellen Knoten zusammen. Sie band seinen Dhoti, das lange Kleidungsstück, das um die Hüften geschlungen und dann zwischen den Beinen hochgebunden wird. Sie machte das Namam, das puderige Kastenzeichen, auf seine Stirn. Sie brachte ihn in die Schule. Sie kontrollierte seine Freunde und seine Zeit; sie traf seine Entscheidungen. Als Ramanujan später in der Schule nicht die Behandlung erfuhr, die sie sich vorstellte, stürmte sie in das Büro des Direktors und protestierte. Und als sie entschied, daß er heiraten sollte, besorgte sie die Frau und arrangierte die Hochzeit. - Und bei alledem kam ihr nie in den Sinn, nach der Meinung ihres Mannes zu fragen.

Komalatammal lebte ein spirituelles Leben mit ungeheurer Intensität: sie war stockfromm, veranstaltete Gebetstreffen in ihrem Haus, sang im Tempel, widmete sich der Astrologie und dem Handlinienlesen und führte stets den Namen der Familiengöttin Namagiri von Namakkal im Mund.

Er: Wir haben schon darüber gesprochen, daß seine Religiosität Auswirkungen auf seine mathematische Arbeit hatte. Gibt es darüber Berichte?

Ich: Zweifellos beruhte seine Fähigkeit, tiefe Zusammenhänge zu sehen, Zusammenhänge, die nie jemals zuvor jemand gesehen hatte, auch darauf, daß sein Geist ganz offen war, daß er bereit war Inspirationen aufzunehmen.

Er: Ich kann mir vorstellen, daß diese religiöse Haltung in Indien verstanden und akzeptiert wurde, daß aber seine englischen Kollegen damit ihre Schwierigkeiten hatten.

Ich: In der Tat. Seine englischen Förderer, allen voran Hardy, waren Atheisten; ihnen war diese Seite Ramanujans prinzipiell verschlossen, ja sie behaupteten, Ramanujans Religiosität sei nur soziale Anpassung.

Er: Gibt es dafür Hinweise? Hat er während der Jahre in England seine Religiosität verloren?

Ich: Natürlich konnte er in England seine Religiosität nicht so ausüben wie in Indien. Aber metaphysische Spekulationen waren für ihn immer wichtig, vielleicht lebenswichtig. In England entwickelte Ramanujan eine Theorie um Null und Unendlich, wobei seine Freunde nie ganz verstanden, was das alles solle. Die Null stellte anscheinend die absolute Realität dar. Das Unendliche war der myriadenfache Ausdruck dieser Realität. Das mathematische Produkt 0 war keine einzelne Zahl, sondern alle Zahlen, von denen jede einem individuellen Schöpfungsakt entsprach. Diese Idee scheint unsinnig zu sein - sogar für Philosophen, bestimmt aber für Mathematiker. Aber für Ramanujan hatte sie Bedeutung. Einer seiner Freunde schrieb später, daß Ramanujan "mit einer solchen Begeisterung über philosophische Fragen sprach, daß ich manchmal den Eindruck hatte, daß es ihm wahrscheinlich besser gefallen hätte, Anerkennung für seine philosophischen Theorien zu ernten, als wasserdichte Beweise für seine mathematischen Vermutungen zu erarbeiten."

Er: Ein Wunderkind war er offenbar nicht. Manche Genies sind das Gegenteil, besonders schlechte Schüler.

Ich: Das kam erst später. Nein, in der Schule war er gut, sogar sehr gut. Er bekam Preise, und insbesondere war er ein ausgezeichneter Mathematiker.

Er: Solche Schüler sind nicht immer angenehm für ihre Lehrer.

Ich: Das ist richtig. Spätestens in der dritten Klasse der Oberschule war er, sagen wir mal, eine Herausforderung für die Lehrer. Eines Tages erklärte der Mathematiklehrer, daß, wann immer man etwas durch sich selbst teilt, Eins herauskommt. Er sagte, wenn man drei Früchte auf drei Personen verteilt, bekommt jeder eine. Auch wenn man 1000 Früchte auf 1000 Personen verteilt, bekommt jeder eine. An dieser Stelle platzte Ramanujan heraus: "Ist Null geteilt durch Null ebenfalls Eins? Wenn man keine Frucht auf niemand aufteilt, bekommt dann auch jeder eine?"

Er: Nun ja, er war eben ein guter Schüler, aber es gibt Tausende von guten Schülern. Auch damals in Indien gab es Tausende von guten Schülern. Wie kam Ramanujan nun wirklich zur Mathematik? Gab es einmal einen Klick, und er war da?

Ich: Er kam nicht zur Mathematik, er verfiel ihr. Und zwar geschah das dadurch, daß dem sechzehnjährigen Ramanujan ein Buch in die Hände fiel, das man sich ungeeigneter nicht vorstellen kann.

Er: War es zu schwer? Oder zu leicht?

Ich: Es war gar kein Mathematiklehrbuch, sondern eine Formelsammlung!

Er: So ein Heft wie wir in der Schule hatten, in dem wir Sinus und Kosinus nachschlugen?

Ich: Genau, nur daß es kein Heft war, sondern ein Buch mit fünftausend Formeln.

Er: Und diese Formeln waren irgendwie erklärt, er machte sich die Erklärungen zu eigen und konnte sie dann.

Ich: Nein! Es gab keinerlei Erklärungen. Höchstens einen Hinweis. Bei der Formel Nr. 245 steht zum Beispiel "folgt aus (243) und (244)".

Er: Wie bitte?

Ich: Das soll bedeuten, daß man die Aussage von Nr. 245 dadurch erhalten kann, daß man die Argumente von 243 und 244 zusammenfaßt.

Er: Aber das ist ja ungeheuer schwierig. Denn wenn ein Mathematiker sagt, "das folgt" oder gar "das ergibt sich einfach", dann hat man als Normalsterblicher lange daran zu knabbern.

Ich: Das ist richtig. Aber die Formelsammlung war sehr geschickt aufgebaut. Die ersten Formeln waren ganz einfach. Es geht los mit der bekannten binomischen Formel a^2-b^2 = (a-b)(a+b), die kommentarlos dasteht. Dann geht es weiter mit a^3-b^3 = (a-b)(a^2+ab+b^2).

Er: Und so fünftausend Formeln.

Ich: Ja, und es wurde natürlich schwieriger. Das Buch behandelt große Teile der Mathematik des 19. Jahrhunderts, die damals ja schon sehr weit entwickelt war: Algebra, Trigonometrie, Analytische Geometrie, Differential- und Integralrechnung.

Er: Und Ramanujan . . . ?

Ich: . . . war davon gebannt. Er arbeitete die Formelsammlung durch, soweit wir wissen ohne Anleitung oder Ermunterung von außen. Jede Formel war für ihn eine Herausforderung, er konnte ihr nicht widerstehen. So ähnlich wie bei manchen Leuten, die ein Kreuzworträtsel lösen müssen, wenn sie es sehen.

Er: Aber Mathematik ist doch schwieriger als ein Kreuzworträtsel?

Ich: Ja, für Ramanujan war jede einzelne Formel ein kleines Forschungsprojekt.

Er: Und dann?

Ich: Dann machte er weiter. Er begab sich auf eine Reise in für ihn unbekannte Gebiete. Zunächst geführt von der Formelsammlung, aber bald entdeckte er Gebiete, die der Autor der Formelsammlung nie betreten hatte und oft auch sonst niemand.

Er: Das heißt . . . von da an war er Mathematiker.

Ich: Noch viel mehr. Er wußte, daß Mathematik sein wesentlicher Lebensinhalt war. Ramanujan hatte sein Zuhause in der Mathematik gefunden. Sie gab ihm geistige, ästhetische und emotionale Befriedigung.

Er: Hat diese Formelsammlung Einfluß auf seine späteren mathematischen Forschungen oder war das nur eine pubertäre Prägung?

Ich: Dieses Buch hat Ramanujans Auffassung von Mathematik geprägt wie nichts anderes, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits war er Zeit seines Lebens ein Mensch der in Formeln dachte;

Er: Er war also ein Meister im Formelmanipulieren? Ersetzt eine Variable durch eine andere und plötzlich sieht die Formel ganz anders aus. Wie ein Zauberkünstler.

Ich: Ja, aber noch viel mehr. Er sah den Formeln ins Herz, er konnte mit Hilfe von Formeln innere Zusammenhänge der Zahlen ausdrücken wie kein anderer seiner Zeit.

Er: Und der zweite Punkt?

Ich: In der Formelsammlung gab es keine Beweise. Ramanujan hat offenbar die Auffassung gehabt, man müsse eine Formel einsehen, und das ist es. Einen Beweis formal aufzuschreiben, fand er unnötig.

Er: Aber Mathematik besteht doch darin, die Aussagen zu beweisen, formal zu beweisen mit der ganzen Symbolik, die dafür entwickelt wurde.

Ich: Ja, das ist unsere Auffassung. Ramanujan hat sich selbst von der Wahrheit einer Aussage überzeugt, und danach hatte er kein Bedürfnis mehr, die Gründe für seine Aussage anderen darzulegen.

Er: Was machte Ramanujan eigentlich, als er die Formelsammlung durch hatte? Besorgte er sich eine neue? Oder arbeitete er jetzt richtige Mathematiklehrbücher durch? Oder hatte er von allem erst mal genug?

Ich: Genug hatte er bestimmt nicht; von Mathematik konnte er von da an nie genug bekommen. Er machte einfach genau so weiter wie bisher - nur ohne Formelsammlung!

Er: Was meinen Sie damit?

Ich: Nachdem er die gedruckte Formelsammlung in sich aufgenommen hatte, machte er sich seine eigene. Er schrieb seine mathematischen Erkenntnisse in große Notizbücher. "Wenn er eine Formel bewies, entdeckte er viele neue, und daher begann er, ein Notizbuch zusammenzustellen", um seine Ergebnisse gesammelt zu haben.

Er: Diese Notizbücher waren bessere Schmierzettel?

Ich: Nein, die Notizbücher bestehen aus viel mehr als nur unsystematischen Notizen. Sie sind in einzelne Kapitel aufgeteilt, die jeweils einem speziellen Thema gewidmet sind, und die Sätze sind fortlaufend numeriert. In diesem Notizbuch schaut Ramanujan zurück auf das, was er getan hat und stellt es sauber und formal dar.

Er: Soweit ich diesen Ramanujan bisher kennengelernt habe, scheint analytische Strenge nicht seine Hauptstärke gewesen zu sein. Deshalb kann ich mir kaum vorstellen, daß er diesen strengen Aufbau durchhielt.

Ich: Sie vermuten vollkommen richtig. Er hatte zwar geplant, alles in Kapitel einzuteilen und nur auf die rechten Seiten zu schreiben, aber irgendwann brach sein Vorsatz zusammen. Er begann, die Rückseiten von manchen Blättern für Nebenrechnungen oder für Zwischenergebnisse zu benutzen. Jetzt finden sich Haufen mathematischer Notizen in einer unordentlichen Handschrift, einige wieder durchgestrichen, manchmal geht die Schrift bergauf und bergab und bleibt nicht gerade. - Das führte zu dem Ergebnis, das uns heute vorliegt, ein mit Papier und Tinte fixiertes Gedankenkonglomerat.

Und diese Notizbücher beschäftigen bis heute ein Heer von Mathematikern, die sich ihrem Studium gewidmet haben.

Er: Kann man aus den Notizbüchern eigentlich auch entnehmen, wie Ramanujan gedacht hat?

Ich: Schwierige Frage. Eines wird aber ganz deutlich: Obwohl er ein ausgesprochener Virtuose im Umgang mit Formeln war, hat er nicht nur abstrakt in Formeln gedacht, sondern sie oft durch Einsetzen von Zahlenwerten konkretisiert. Er setzte Zahlen ein, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich die Funktionen verhalten. Auf einigen Seiten findet man kaum Symbole wie S und f(x), aber überreichlich Zahlen wie 61 oder 3533; diese Seiten sehen überhaupt nicht wie eine mathematische Abhandlung aus, sondern erinnern eher an die Hausaufgaben eines Viertkläßlers.

Er: Warum dies? Warum läßt sich gerade Ramanujan, der das nun wirklich nicht nötig hatte, auf die Ebene des reinen Rechnens herab?

Ich: Ramanujan tat nur, was große Künstler immer tun: Er setzte sich mit seinem Material auseinander. Er erarbeitete sich aus demselben Grund eine intime Vertrautheit mit Zahlen, aus dem ein Maler ewig seine Farben mischt oder ein Pianist endlos Tonleitern übt. Und seine Einsicht zahlte sich aus. Er war wie ein Biologe, der Dinge sieht, die anderen entgehen, weil er jede Nacht im Laboratorium steht, um zu beobachten.

Er: Ramanujan war also ein sehr guter Schüler, war gefesselt von der Mathematik und offenbar sehr begabt. Das war sicher nur der Startpunkt seiner wissenschaftlichen Karriere. Er ist dann bestimmt auf eine gute Universität gegangen, hat dort gute Examen -

Ich: Halt! Keine Romantik, zurück zu den Fakten!

Er: Wie bitte?

Ich: Ramanujan besuchte eine Universität, genauer gesagt, das Government College in Kumbakonam. Wir dürfen uns das allerdings nicht wie eine Universität in unserem Sinne vorstellen, in der man sich auf ein Fach spezialisieren kann und den Rest den anderen überlassen kann. Diese Colleges in Indien dienten vielmehr dazu, tüchtige Verwaltungsfachleute auszubilden, die den Engländern helfen sollten, ihre Provinz effizient zu verwalten.

Er: Das war also mehr eine Verwaltungsfachschule, oder . . .

Ich: Ja, mit einer starken allgemeinbildenden Komponente.

Er: Konkret bedeutete dies, daß Ramanujan auch andere Fächer hören mußte.

Ich: . . . und darin Prüfungen ablegen!

Er: . . . was für einen so begabten jungen Mann eigentlich kein Problem gewesen sein dürfte.

Ich: Eigentlich nicht. Allerdings war Ramanujan so gefangen von der Mathematik, daß er nichts anderes mehr wahrnahm. Er war in den Vorlesungen zwar noch physisch anwesend, sein Geist bewegte sich aber in anderen Welten.

Er: Aber man kann doch von einem solchen Genie nicht verlangen, daß er sich um alles mögliche für ihn triviale Zeug kümmert.

Ich: Genau das verlangte man aber. Das System war kompromißlos. Ramanujan bestand natürlich Mathematik glänzend, fiel aber in anderen Fächern durch. Mal war es Englisch; er wiederholte die Prüfung - und fiel wieder durch. Er wechselte das College - und - Sie erwartet schon das Schlimmste - er fiel wieder durch, und zwar in Biologie. Außer in Mathematik hatte er überall schlechte Ergebnisse, aber in Biologie war er wirklich beeindruckend schlecht, er hatte oft weniger als 10% aller möglichen Punkte. Er absolvierte die dreistündige Mathematikklausur in einer halben Stunde. Aber das half ihm gar nichts. Im Dezember 1906 trat er zum Examen an und fiel durch. Im darauffolgenden Jahr wiederholte er die Prüfung. Und fiel wieder durch.

Er: Aber hat denn niemand erkannt, daß hier ein Genie verkümmerte?

Ich: Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gab es keinen Platz für Srinivasa Ramanujan im Universitätssystem von Südindien. Er war begabt, und jeder wußte es. Aber dies reichte nicht, um ihn in der Universität zu halten oder ihm zu einen akademischen Grad zu verhelfen.

Er: Und dann?

Ich: Ramanujan hatte alle Stipendien verloren. Er war in der Universität durchgefallen. Er hatte nichts.

Er: Und was machte er?

Ich: Jetzt gab es nichts mehr, was ihn von seinen Notizbüchern trennen konnte - Notizbücher, vollgestopft mit mathematischen Sätzen, die jeden Tag, jede Woche mehr wurden.

Er: Eine Sache ist mir noch nicht richtig klar. Diskutierte Ramanujan seine Ergebnisse mit anderen oder war er allein mit seinen Notizbüchern?

Ich: Er war im wesentlichen allein. Er versuchte zwar immer wieder, seine Ergebnisse indischen Mathematikern vorzustellen, aber wir können sicher sagen: richtig verstanden hat ihn keiner. Genie oder Scharlatan? Diese Frage konnte in Indien niemand entscheiden.

Er: Gab es denn niemanden, der ihn verstehen konnte? Niemand, der erkannte, daß dieser Mensch ein Genie war? Niemand, der sich um ihn kümmerte?

Ich: Doch, es gab einen solchen Menschen. Aber dieser wußte noch nichts von Ramanujan.

Er: Wahrscheinlich ein wesensverwandter Mensch, der sich gut in ihn hineinfühlen konnte.

Ich: Im Gegenteil: Ein Mensch, der jederzeit von sich behauptet hätte, keine Gefühle zu haben, und zumindest der Überzeugung war, daß diese in der Mathematik nichts verloren haben.

Er: Das war

Ich: Godefrey Harold Hardy, der Mathematikstar aus Cambridge, aus dem Mekka der englischen Mathematik.

Er: Inwiefern war er ein Gegensatz zu Ramanujan? Wie sah er aus? Wie lebte und arbeitete er?

Ich: Nur Geduld. Im Gegensatz zu Ramanujan haben wir über Hardy viele Berichte.

Er: Ich bin gespannt.

Ich: "Er ist das mathematische Genie", schrieb einer seiner Freunde, "dabei sieht er aus wie ein dreijähriges Kind." Noch mit dreißig passierte es manchmal, daß ihm kein Bier ausgeschenkt wurde.

Er hatte wasserklare Augen, ein fein ziseliertes Gesicht und (im Jahre 1913) gerade, kurzgeschnittene Haare. Er war schön. Er glaubte das natürlich nicht und konnte es kaum ertragen, sich anzuschauen. In seinen Zimmern im College gab es keinen Spiegel; in Hotelzimmern hängte er jeden mit einem Handtuch zu und rasierte sich nach Gefühl. Aber er war der einzige, der sich täuschen ließ. Auch als er schon über fünfzig war, war sein Aussehen fesselnd.

Er: Offenbar war Hardy äußerlich attraktiv. War er auch als Person anziehend? War er liebenswürdig und freundlich?

Ich: Er war bestimmt nicht gemütlich; und "liebenswürdig" ist vielleicht auch nicht das typische Kennzeichen. Er war schüchtern und selbstbewußt; er mochte keine oberflächliche Konversation. Sich formal vorzustellen, fand er widerlich; er schüttelte keine Hand, sondern ging, den Blick nach unten gerichtet, auf der Straße und ignorierte alle, die erwarteten, mit ihm ein "Wie geht's" auszutauschen. Er war "einer der merkwürdigsten und liebenswertesten Menschen", schrieb Leonard Woolf, der spätere Mann von Virginia Woolf.

Er: Es scheint, daß Hardy klare Vorstellungen hatte.

Ich: Das kann man sagen. Hardy war stets dabei zu kritisieren, abzuwägen und Vergleiche zu ziehen. Er beurteilte Mathematiker, ihre Tätigkeit, die Bücher und die Veröffentlichungen, die sie verfaßten. Er hatte von allem eine klare Meinung, und: er äußerte sie. Er haßte den Krieg, die Klasse der Politiker und das englische Klima. Er liebte die Sonne. Er liebte Katzen und haßte Hunde. Er haßte Uhren und Füllfederhalter, er liebte die Kreuzworträtsel der Londoner Times.

Er: Als echter Engländer hat er doch sicher auch einen Spleen gehabt.

Ich: Hardy war ein Kricket-Enthusiast von fast krankhaftem Ausmaß. Er spielte Kricket, er beobachtete Kricket, er studierte Kricket, er lebte Kricket. Er benutzte Kricketausdrücke metaphorisch in seinen mathematischen Arbeiten. "Das Problem kann man am besten in der Sprache des Krickets verstehen" schrieb er in einer schwedischen Mathematikzeitschrift - Ausländer konnten es allerdings überhaupt nicht verstehen. Hardy spielte das Spiel bis in seine Sechziger. Noch auf dem Totenbett wird ihm seine Schwester etwas über Kricket vorlesen.

Er: Das interessierte Ramanujan bestimmt nicht. Vielleicht kannte er Hardy aber als Mathematiker.

Ich: 1913, im Alter von fünfunddreißig, war Hardy bereits ein berühmter Mathematiker. Er veröffentlichte seit 15 Jahren und hatte mehr als 100 Arbeiten und drei Bücher geschrieben. Er war ein Fellow des Trinity College in Cambridge und wurde 1910 zur Aufnahme in die Royal Society, Großbritanniens elitärster Akademie der Wissenschaften, vorgeschlagen.

Er: Benutzte Hardy die Mathematik als Mittel zur Karriere oder war sie ihm wirklich wichtig?

Ich: Mathematik war ihm wichtiger als alles andere: Wichtiger als seine Sticheleien gegen Gott, wichtiger als sein Vergnügen an Kricket und wichtiger als seine hinterhältigen Winkelzüge in der Konversation während eines Dinners. Er schrieb einmal: "Mein Verhältnis zur Mathematik ist wirklich sehr extravagant und fanatisch. Ich glaube an sie, ich liebe sie, und ohne sie wäre ich äußerst elend." Seine mathematische Forschung sei, "das einzige große dauerhafte Glück meines Lebens."

Sprecher: Winter 1913. Europa war in Unruhe, seine Armeen in Bereitschaft. Die Welt veränderte sich laufend. Picassos erste kubistische Bilder waren kaum ein Jahr zuvor entstanden. In Paris bereitete Diaghilew die Premiere von Strawinskis stürmischem Le Sacre du Printemps vor. In England war George V. König, nachdem Eduard 1910 plötzlich gestorben war. In ganz Großbritannien streikten die Arbeiter. Militante Suffragetten warfen Fensterscheiben ein. Irland kochte.

Aber in Cambridge gingen die Dinge ihren Gang wie immer. Hardy näherte sich seinem 36. Geburtstag, ohne daß man dies seinem Gesicht auch nur im geringsten ansah. Er besuchte Bertrand Russell und diskutierte mit ihm Bergson und Religionsphilosophie. Im Jahre 1912 veröffentlichte Hardy neun Arbeiten, darunter seine erste gemeinsame Arbeit mit Littlewood. Hardys Freund Leonard Woolf fand Cambridge, als er aus Ceylon zurückkam, ganz so, wie er es verlassen hatte. "Ich hatte das gute Gefühl einer Art von Sicherheit. Ich genoß das Wochenende. Es war Cambridge und Lytton und Bertie Russell und Goldie, die Society und der Great Court von Trinity, und Hardy und das Kegelspiel - die ganzen ewigen Werte aus meiner Jugend - genau so, wie ich sie sieben Jahre zuvor verlassen hatte."

Hardy hatte seinen festen Tagesablauf. Beim Frühstück las er die Londoner Times, insbesondere die Kricketergebnisse. Vormittags arbeitete er etwa vier Stunden und nahm dann einen leichten Lunch in der Hall. Nachmittags spielte er vielleicht ein bißchen Tennis. Seine Karriere war optimal. Sein Leben bequem. Seine Zukunft gesichert.

Da kam der Brief aus Indien.

Der Brief war datiert mit "Madras, den 16. Januar 1913" und begann

Ramanujan: Sehr geehrter Herr,

darf ich mich Ihnen vorstellen als Angestellter der Buchhaltung in der Hafenverwaltung von Madras mit einem Jahreseinkommen von £20. Ich bin jetzt 23 Jahre alt. Ich habe keine abgeschlossene Universitätsausbildung, habe aber den üblichen Unterricht absolviert. Nachdem ich die Universität verlassen habe, habe ich mich in der mir zur Verfügung stehenden Freizeit mit Mathematik beschäftigt. Ich habe nicht den konventionellen geregelten Weg beschritten, dem man in einer Vorlesung an der Universität folgt, sondern ich gehe einen eigenen, neuen Weg. Ich habe spezielle Untersuchungen über divergente Reihen im allgemeinen angestellt, und die von mir erhaltenen Ergebnisse werden von den örtlichen Mathematikern als "aufregend" bezeichnet.

Sprecher: Ein unbedeutender Angestellter in den Hinterzimmern eines 5000 Meilen entfernten Büros trachtete offenbar danach, Mitleid und Erstaunen hervorzurufen. Man merkte eine aufgeregte Lebendigkeit bei ihm:

Ramanujan: Ich habe nicht den konventionellen geregelten Weg beschritten.

Sprecher: Im nächsten Abschnitt behauptete er, daß er die negativen Werte der Gammafunktion erklären könne. Im dritten diskutierte er eine Behauptung in einem mathematischen Traktat, den Hardy drei Jahre zuvor geschrieben hatte.

Ramanujan: Ich habe einen Ausdruck für die Anzahl der Primzahlen gefunden, der dem wahren Wert außerordentlich nahe kommt; der Fehler ist vernachlässigbar.

Sprecher: Er behauptete, daß der Primzahlsatz, wie er in der mathematischen Welt bekannt war, wie er zunächst von Legendre und später genauer von Gauß formuliert worden war, daß dieser Satz ungenau und nicht präzise genug sei und daß er, ein unbekannter indischer Angestellter, etwas Besseres habe. Dies war der Köder, den Ramanujan auswarf, um Hardys Aufmerksamkeit zu erhalten. Der Brief schloß:

Ramanujan: Ich bitte Sie, die beigelegten Papiere durchzusehen. Da ich arm bin, möchte ich gerne meine Sätze veröffentlichen, falls Sie überzeugt sind, daß sie einen Wert haben. Ich gebe Ihnen weder meine eigentlichen Untersuchungen noch die Ausdrücke, die ich erhalte, sondern ich habe Ihnen die Wege angedeutet, auf denen ich voranschreite. Da ich keine Erfahrung habe, wäre mir jeglicher Rat, den Sie mir geben, von höchstem Wert. Ich bitte um Entschuldigung für die Mühe, die ich Ihnen bereite.

Ich verbleibe, sehr geehrter Herr, mit vorzüglicher Hochachtung, S. Ramanujan

Er: Das war wahrscheinlich nicht das Ende der Geschichte . . .

Ich: Eher deren Anfang. Die beigelegten Papiere, auf die Ramanujan verwies, bestanden aus neun Seiten. Die erste Seite liest sich wie das Patent eines Erfinders, mit dem entsprechenden, fast rhythmischen Klang siegessicherer, froher Gewißheit:

Ramanujan: Ich habe eine Funktion gefunden, die genau die Anzahl der Primzahlen kleiner x angibt, "genau" in dem Sinn, daß die Differenz zwischen der Funktion und dem wirklichen Wert grundsätzlich 0 oder ein ganz kleiner Wert ist, und das sogar, wenn x unendlich wird. Ich habe die Funktion in der Form einer unendlichen Reihe erhalten und sie auf zwei Weisen ausgedrückt . . .

Ich: Jetzt hatte normales Englisch praktisch ausgespielt, und die Sprache der Algebra, Trigonometrie und Analysis beherrschte die Szene. Es gab Sätze der Zahlentheorie, Sätze, mit denen man bestimmte Integrale auswerten konnte, Sätze über die Summation unendlicher Reihen, Sätze über die Transformation von Reihen und Integralen - insgesamt vielleicht fünfzig Sätze.

Er: Wie reagierte Hardy auf diesen Brief? Wie reagiert man auf einen solchen Brief? Jeder Mathematiker erhält in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen seltsame, merkwürdige, "verrückte" Briefe, in denen sensationelle mathematische Entdeckungen angekündigt werden.

Ich: Hardys Reaktion auf diesen Brief gehört zu den spannendsten und aufregendsten Szenen in Ramanujans (und Hardys!) Leben.

Er: Woran hat Hardy denn erkannt, daß das der Brief eines Genies war? Kannte er die Sätze? Oder kamen sie ihm wenigstens bekannt vor?

Ich: Zuviele Fragen auf einmal. Ihm war zunächst überhaupt nicht klar, daß er mit einem Genie zu tun hatte. Aber vertraut waren ihm die Sätze nicht. Die Sätze waren fremd und merkwürdig. Als erstes fesselte Hardy die Fremdheit der Sätze Ramanujans, nicht ihre Brillanz.

Er: Was heißt fremd? Wie soll ich das verstehen?

Ich: Vielleicht so: Für Hardy war Ramanujans Mathematik wie ein fremdartiger Wald, dessen Bäume zwar so vertraut waren, daß man sie Bäume nennen konnte, andererseits so merkwürdig, als ob sie von einem anderen Planeten kommen würden.

Er: Und wie hat Hardy dann doch gemerkt, . . .?

Ich: Nur Geduld! Wir wissen über diesen wichtigsten Tag im Leben Hardys gut Bescheid.

Hardy legte das Manuskript, nachdem er einen ersten Blick darauf geworfen hatte, zur Seite und vertiefte sich bald darauf in die Londoner Times.

Er machte sich gegen Neun an die mathematische Arbeit. Er blieb dabei bis etwa Eins und schlenderte dann zum Lunch in die Hall des Colleges. Danach ging er zum Tennisspielplatz der Universität für ein Spiel Tennis.

Er: Ganz normal? So wie immer?

Ich: Nein, heute ließ ihm etwas in seinem Kopf, der sonst durch den intensiven Sport entspannt wurde, keine Ruhe. Das indische Manuskript rumorte und scharrte an seiner Gemütsruhe mit seinen wilden Sätzen und Behauptungen, die er zuvor weder gesehen noch sich vorgestellt hatte.

Er: Waren sie wild und unvorstellbar, weil sie dumm, trivial oder einfach falsch waren und durch nichts gestützt wurden? Oder weil sie von einer seltenen Blüte eines exotischen Genies kamen?

Ich: Vielleicht waren sie auch einfach bekannte Sätze, die der Inder in einem Buch gefunden und deren Herkunft er clever vertuschte, indem er sie in etwas anderer Form aufgeschrieben hatte - dann wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Hardy sie gefunden hätte.

Er: Vielleicht war alles auch nur ein Streich. Solche Scherze waren damals sehr in Mode. Viele Engländer, die hohe Stellen in Indien bekleideten, waren versiert in Mathematik - gut genug, um eine solche Nummer zu inszenieren. Und wen könnte man besser reinlegen als den alten Freund Hardy aus Cambridge?

Ich: Solche fragmentarischen Gedanken vagabundierten durch Hardys Kopf, als er vom Tennis zurückkam und als er über eine der Brücken über den Cam, dann über den weiten Rasen und durch das Tor in den New Court ging. Als er wieder in seiner Wohnung im zweiten Stock war, setzte er sich erneut mit dem Brief aus Indien hin. Jetzt begann bereits die winterliche Dämmerung.

Er: Wollte Hardy die Sätze des Inders beweisen?

Ich: Er wäre zufrieden gewesen, wenn er hätte sehen können, ob an ihnen überhaupt etwas dran war. Und selbst das war nicht einfach. Zum Teil deswegen, weil "manche seltsame Spezialisierung einer Konstanten oder eines Parameters es schwierig machte, die wirkliche Bedeutung einer Formel zu erfassen."

Er: Das heißt also grob gesprochen, wie wenn Ramanujan das Sprichwort "Wer den Pfennig nicht ehrt, ist der Mark nicht wert" ausgedrückt hätte als "wer sieben Pfennige nicht ehrt, ist keiner drei Mark achtzig wert".

Ich: Jedenfalls trug das zu Hardys Verblüffung bei.

Er: Immer noch keine Entscheidung!

Ich: Es wurde dunkel. Es war schon fast Zeit für das Dinner. Die Formeln wurden nicht einsichtiger, die Qualität des Mannes, der sie geschrieben hatte, nicht klarer. Genie oder Scharlatan?

Er: Hardy konnte doch nicht einfach müßig in diesen Papieren blättern und warten, bis er es herausbekommt!

Ich: Hardy faßte einen Entschluß: Auch Littlewood sollte einen Blick darauf werfen!

Er: John Edensor Littlewood, der berühmte Littlewood, mit dem Hardy soviele Arbeiten gemeinsam schrieb, daß die Leute sagten: Es gibt drei berühmte Mathematiker in Cambridge: Hardy, Littlewood und Hardy-Littlewood! ?

Ich: Genau dieser Littlewood! Hardy schätzte ihn außerordentlich; er hielt ihn für den "Mann , dem man am ehesten zutraut, wirklich tiefe und furchterregend schwierige Probleme in Angriff zu nehmen und zu erledigen. Es gibt niemand anderen, der über eine solche Kombination von Einsicht, Technik und Willen verfügt."

Er: Da sie im selben College wohnten, konnten sie sich ja auch häufig und zwanglos treffen.

Ich: Ja, sie wohnten im selben College, sogar nur ein paar Schritte voneinander entfernt; ja, sie kommunizierten sehr häufig, aber von Zwanglosigkeit konnte keine Rede sein. Normalerweise kommunizierten sie nämlich per Brief oder mit Hilfe eines Boten.

Er: Also?

Ich: An diesem Winterabend im Jahre 1913 sandte Hardy einen Boten zu Littlewood, um ihn wissen zu lassen, daß er ihn nach dem Dinner zu sprechen wünsche.

Er: Und was passierte?

Ich: Etwa um Neun trafen sie sich, wahrscheinlich in Littlewoods Wohnung, und bald lag das Manuskript ausgebreitet vor ihnen.

Er: Konnten sich die beiden jetzt gemeinsam ein Urteil über Ramanujan bilden?

Ich: Ja, Hardy erzählte später darüber: Wir fanden Sätze, die "mich vollkommen in den Bann zogen. Ich hatte nie zuvor etwas gesehen, was diesen auch nur im geringsten ähnlich war. Ein einziger Blick genügte, um zu sehen, daß diese nur von einem Mathematiker der allerhöchsten Klasse niedergeschrieben worden sein konnten." Und dann fügte er hinzu: "Die Sätze müssen wahr sein; denn wären sie nicht wahr, hätte niemand die Vorstellungskraft haben können, sich diese auszudenken."

Er: Ein typischer Hardy-Aphorismus!

Ich: Je mehr sie sich damit beschäftigten, desto mehr gerieten sie ins Staunen. Von den Sätzen, die dieser Angestellte aus Indien, von dem niemand je gehört hatte, geschickt hat, hätte kein einziger in der schwierigsten Mathematikprüfung der Welt gestellt werden können.

Und so begannen Hardy und Littlewood noch vor Mitternacht zu würdigen, daß sie während der vergangenen drei Stunden in den Papieren eines mathematischen Genies gestöbert hatten.

Er: Und dann nahmen die Dinge ihren Lauf . . .

Ich: Ja, Hardy begann sofort, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um Ramanujan nach England zu bringen. Dies gelang - nachdem einige Schwierigkeiten überwunden waren - auch. Ramanujan kam nach Cambridge, und es begann eine außerordentlich fruchtbare Zusammenarbeit.

Er: Wann war das?

Ich: Ramanujan landete am 14. April 1914 in London.

Er: Am 31. August 1914 begann der Erste Weltkrieg.

Ich: Und dies beeinflußte Ramanujans Leben stark. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden viele Mathematiker abgezogen und das Trinity College in ein Freiluftlazarett verwandelt.

Er: Ramanujan war doch Vegetarier?

Ich: Die Ernährungslage begann sich bedrohlich zu verschlechtern: Es war außerordentlich schwierig, vegetarische Nahrung, die er als strenger Brahmane haben mußte, zu besorgen. Er erkrankte (wahrscheinlich an Tuberkulose) und verbrachte viele Monate in englischen Sanatorien.

Er: Ein Kapitel für sich!

Ich: Er wurde depressiv und unternahm sogar einen Selbstmordversuch, indem er sich vor eine Londoner U-Bahn zu werfen versuchte.

Er: Er konnte also keine Mathematik mehr machen?

Ich: Doch, er arbeitete, wann immer möglich, intensiv Mathematik, machte viele Entdeckungen und schrieb - teilweise gemeinsam mit Hardy - viele Veröffentlichungen. Er erhielt hohe Ehrungen; die bedeutendste war sicherlich die Aufnahme in die Royal Society.

Er: Wie lange währte dieses Elend?

Ich: Bis nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Dann kehrte er nach Indien zurück, war aber bereits todkrank. Er lebte noch ein Jahr, und in diesem Jahr kam es auch zur ersten echten Beziehung zu seiner Frau Janaki. (Diese waren vorher stets von seiner Mutter - die das beste für ihren Sohn wollte - verhindert worden.) Ramanujan starb am 26. April 1920.

Er: Wir haben jetzt soviel über diesen Ramanujan gesprochen, über seine Person, seine Lebensumstände, sein Schicksal usw. Wir haben auch ein bißchen über seine Mathematik gesprochen. Was mich aber interessiert: Ist seine Mathematik wirklich so schwer, daß man nichts davon erklären kann? Es wäre schön, wenn Sie mir auch davon noch einen Eindruck verschaffen könnten.

Ich: Ja und Nein. Seine Methoden, also die Art und Weise, wie er seine Einsichten mathematisch gewann, sind natürlich nicht so einfach darzustellen. Aber seine Gegenstände, die Zahlen, sind das Einfachste was es gibt - jeder geht damit um: 1 Pfund Butter, 5,6 Millionen Arbeitslose, 1,44 Megabyte.

Er: Aber Ramanujan hat ja Zahlen nicht gesammelt wie Briefmarken.

Ich: Nein, er hat Eigenschaften von Zahlen erkannt.

Er: Was heißt "Eigenschaft" einer Zahl? Eine Zahl ist eine Zahl.

Ich: Das kann man sich so ähnlich wie bei chemischen Substanzen vorstellen. Manche sind fest, manche flüssig, manche gasförmig. Manche zerfallen, manche sind stabil. Manche sind organisch, manche anorganisch. Alles Eigenschaften.

Er: Und was wären zum Beispiel Eigenschaften von Zahlen?

Ich: Eine Zahl kann gerade sein oder ungerade. Eine Zahl kann eine Quadratzahl sein, wie 1 (= 11), 4 (= 22) oder 9 (= 33). Und eine ganz wichtige Eigenschaft einer Zahl ist, ob sie eine Primzahl ist oder nicht.

Er: Primzahlen sind Zahlen, die nur durch 1 und durch sich selbst ohne Rest teilbar sind. Zum Beispiel . . .

Ich: 5. Denn 5 ist durch 1 und sich selbst teilbar - wie übrigens jede Zahl. Das Besondere ist aber, daß sie durch keine andere Zahl teilbar ist, also weder durch 2 noch durch 3, noch durch 4.

Er: Kann man sagen, daß Ramanujan Eigenschaften von Zahlen gesammelt hat, also Listen von Primzahlen aufgestellt usw.

Ich: Nein, er hat Eigenschaften von Zahlen miteinander in Beziehung gesetzt. Er hat gesehen: Jede Zahl, die eine Eigenschaft A hat, hat auch Eigenschaft B.

Er: Das klingt ziemlich abstrakt. Können Sie mir das an einem Beispiel erklären?

Ich: Eine der berühmtesten Arbeiten Ramanujans handelt von hochzusammengesetzten Zahlen.

Er: Eine zusammengesetzte Zahl ist eine Zahl wie 21, denn sie ist das Produkt von 3 und 7.

Ich: Ja, es gibt zusammengesetzte Zahlen und Primzahlen. Eine Zahl ist zusammengesetzt oder eine Primzahl. Entweder oder.

Er: Aber Sie sprachen vorher nicht von zusammengesetzten Zahlen, sondern von hochzusammengesetzten Zahlen. Was ist denn das?

Ich: Für jede zusammengesetzte Zahl kann man alle natürlichen Zahlen auflisten, die sie teilen. Zum Beispiel hat 21 die Teiler 1, 3, 7 und 21. Die Teiler von 22 sind 1, 2, 11 und 22. Die Zahl 24 wird von 1, 2, 3, 4, 6, 8, 12 und 24 geteilt.

Er: Ganz schön viele.

Ich: Eben. Das ist nämlich genau der Typ von Zahlen, mit denen sich Ramanujan beschäftigte. Diese Zahl hat acht Teiler, und das ist mehr als jede Zahl hat, die kleiner als 24 ist. Die Zahl 22 hat nur vier Teiler, 21 hat auch nur vier und 20 sechs. Keine natürliche Zahl kleiner als 24 hat sieben Teiler, geschweige denn acht. Das machte sie, in Ramanujans Terminologie, "hochzusammengesetzt".

Er: Gibt es noch andere hochzusammengesetzte Zahlen?

Ich: Ja, die ersten sind: 2, 4, 6, 12, 24 - die wir schon kennen-, 36, 48, 60, 120.

Er: In gewissem Sinne sind also hochzusammengesetzte Zahlen Zahlen, die "so wenig prim wie möglich sind".

Ich: Richtig. Und Ramanujan hat Eigenschaften dieser sehr interessanten Zahlen gefunden.

Er: Was soll das heißen?

Ich: Dazu muß ich ein bißchen ausholen. Jede zusammengesetzte Zahl N ist aus Primfaktoren aufgebaut; man kann sie schreiben als

N = 2 hoch irgendwas mal 3 hoch irgendwas mal 5 hoch irgendwas usw.

Er: Unsere Zahl 24 kann zum Beispiel als 2331 geschrieben werden.

Ich: Ramanujan fand heraus, daß bei jeder hochzusammengesetzten Zahl diese "Hochzahlen", die auch "Exponenten" genannt werden, nicht willkürlich sein können, sondern ganz speziellen Bedingungen genügen müssen.

Er: Welche Bedingungen?

Ich: Der Exponent von 2 muß mindestens so groß sein wie der Exponent von 3; diese wieder mindestens so groß wie der Exponent von 5 usw.

Er: Moment mal, das heißt, daß es keine hochzusammengesetzte Zahl geben kann, die von der Form ist

N = 2 hoch 2 mal 3 hoch 4 mal irgendwas.

Ich: Genau. Man kann so weit gehen, wie man möchte, man wird niemals eine hochzusammengesetzte Zahl dieser Form finden. Niemals.

Er: Das ist aber außerordentlich nützlich, wenn man hochzusammengesetzte Zahlen sucht. Man weiß nämlich genau, wo man nicht zu suchen hat.

Ich: Ja, Ramanujan hat genau das gesehen, was wir vorher erörtert haben: Wenn eine Zahl die Eigenschaft hat, hochzusammengesetzt zu sein, dann muß sie auch die Eigenschaft über die Exponenten haben.

Er: Wie wurde diese Arbeit aufgenommen?

Ich: Sehr positiv. Über diese Arbeit 52 gedankenschwere Druckseiten umfassende Arbeit sagte Hardy, sie sei "hochgenial" und "eine der bemerkenswertesten, die seit vielen Jahren in England publiziert wurde."

Er: Es wurde klar, daß Ramanujans Ergebnisse auch praktisch waren, jedenfalls in dem Sinne, daß sie einem bei der Lösung eines zahlentheoretischen Problems helfen. War Ramanujan auch an angewandter Mathematik interessiert?

Ich: Überhaupt nicht. Er brauchte keine Motivation aus der Praxis.

Er: Aber mathematische Erkenntnisse hätten doch gerade für Indien sehr nützlich sein können: Man hätte vielleicht den Ertrag der südindischen Reisfelder vergrößern können oder das Wassersystem verbessern.

Ich: Ja, sicher. Man hätte das können. Aber Ramanujan verschwendete keinen Gedanken an praktische Anwendungen. Im Gegenteil: Er tat die Dinge nur um ihrer selbst willen.

Er: Wie ein Künstler?

Ich: Ja, Ramanujan war ein Künstler. Und die Zahlen - zusammen mit der mathematischen Sprache, die ihre Beziehungen ausdrückt - waren sein Medium.

Er: Ramanujan ist seit über 75 Jahren tot. Was ist von ihm geblieben?

Ich: Natürlich Mathematik: Hunderte, Tausende von neuen mathematischen Erkenntnissen, Formeln, Sätzen. Das ist fast selbstverständlich, darüber braucht man kaum zu reden. Ich drehe jetzt den Spieß mal um: Was hat Sie eigentlich an Ramanujan am meisten beeindruckt?

Er: Vielleicht doch die Tatsache, daß Ramanujan aus dem mathematischen Nichts kam, keine Bücher und keine Lehrer hatte - und plötzlich meilenweit vor der aktuellen Forschung stand. Meinem Gefühl nach wäre dies in keiner anderen Wissenschaft möglich: In Physik oder Chemie? Undenkbar! In den Sprachwissenschaften? Unvorstellbar! Nur in den Künsten passiert das: Daß einer ganz alleine sich entwickelt und plötzlich allen anderen voraus ist.

Ich: Und noch etwas ist beeindruckend: Daß Ramanujan nie aufgegeben hat. Was sich Ramanujan mehr als alles andere wünschte, war einfach die Freiheit zu tun, was er wollte, alleine seinen Gedanken nachgehen zu können, zu träumen, zu schaffen, sich in einer Welt, die er selbst geschaffen hatte, zu verlieren.

Sprecher: Im heutigen Südindien kennt jeder Ramanujan. Universitätsprofessoren und Rikschafahrer kennen seine Geschichte gleichermaßen, wenigstens die oberflächlichen Tatsachen - etwa so, wie wir im Westen Einstein kennen. Natürlich können nur wenige genauere Auskunft über sein Werk geben, und doch: Irgend etwas in der Geschichte seines Kampfes für das Ziel, seine Arbeit so, wie er wollte, durchzuführen, ruft unwiderstehlich die Vorstellung hervor, die Ramanujan als Symbol für das Genie sieht, für die Hindernisse, vor denen er stand, für die Last, die er zu tragen hatte, und für die Freude, die er an der schieren Existenz der Mathematik hatte.

Schlußbemerkung: Dieses Gespräch wurde frei nach dem Buch
R. Kanigel: Der das Unendliche kannte. Das Leben des genialen Mathematikers Srinivasa Ramanujan. (Aus dem Amerikanischen von A. Beutelspacher). Verlag Vieweg 1995
gestaltet. In diesem Buch ist auch eine Fülle weiterführender Literatur angegeben.


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