Ein indischer Gauß

Beziehungsweise fast: Der Mathematiker Srinivasa Ramanujan

Ein junger Mann aus einer Kleinstadt in der indischen Provinz schafft es, aIs Autodidakt einer der bedeutendsten Wissenschaftler auf seinem Gebiet zu werden, und wird schließlich das tragische Opfer seines Erfolgs. Das ist der Stoff, aus dem die Biographien sind.

Im Zentrum des vorliegenden Buchs steht Srinivasa Ramanujan Iyengar (1887 bis 1920). Ramanujan (sprich Ram-mah-na-dschan) war der wichtigste Mathematiker, den Indien jemals hervorgebracht hat; jemand, den man fast schon mit Archimedes, Newton und Hilbert vergleichen muss. Im Jahre 1887 wurde er in Kumbakonam in Südindien geboren. Seine Familie war arm, gehörte jedoch zur Kaste der Brahmanen, die damals die Gelehrten, Lehrer und Priester stellte. Für einen Brahmanen war es sozial akzeptabel, wenn er keine materiellen, sondern spirituelle oder intellektuelle Ziele verfolgte.

Ramanujans besonderes Talent zeigte sich früh. Auf der Schule war er noch erfolgreich. Seine beiden Versuche, ein ,Studium zu absolvieren, scheiterten aber - man kann es nicht anders sagen - kläglich. Er war brillant in Mathematik und versagte in allen anderen Fächern. Ramanujan brachte sich die höhere Mathematik hauptsächlich selbst bei, und zwar anhand eines mittelmäßigen Textes, der mehr Formelsammlung als Lehrbuch war. Die Förderung in jungen Jahren durch kompetente Lehrer, die für ein erfolgreiches Forscherleben wichtig ist, blieb ihm versagt. Sein Verständnis der Mathematik war weniger rigoros als intuitiv, das aber auf höchstem Niveau. Bei der späteren Publikation seiner Ergebnisse bedurfte er der Hilfe von Kollegen, weil er wichtige Resultate und die üblichen Bezeichnungen nicht kannte.

Nach seinen misslungenen Versuchen, zu studieren, konnte er trotz der Mittellosigkeit seiner Familie mehr als ein Jahr zu Hause verbringen und sich nur seinen Forschungen widmen. Dann musste er sich Gedanken um die Zukunft machen: Er wurde von seinen Eltern, wie es der Brauch war, verheiratet, und zwar mit Janaki, einem neunjährigen Mädchen, das er nie zuvor gesehen hatte. Nach vielen demütigen Bittgängen zu anderen Brahmanen vermittelte man ihm schließlich eine Stelle bei der Hafenverwaltung von Madras. Die Arbeit dort ließ ihm viel Muße für seine Gedanken.

Von Madras aus begann er, Kontakt mit britischen Mathematikern aufzunehmen, von denen er vermutete, dass sie in der Lage seien, seine Resultate zu verstehen und einzuordnen. Erst der dritte Versuch gelang. Godefrey Harold Hardy (1877 bis 1947), ein einflussreicher britischer Professor, schaute sich im Gegensatz zu den beiden Kollegen, an die Ramanujan vorher geschrieben hatte, die Formeln des Inders genauer an. Manches war bekannt, manches war falsch, aber vieles war bedeutend und tiefliegend. Hardy holte Ramanujan zu sich nach Cambridge und verschaffte ihm ein Stipendium. Im Jahre 1913 begann die umfangreiche fruchtbare Zusammenarbeit der beiden.

Leider gestand sein Karma Ramanujan nur wenige Jahre zu, in deņen er die Früchte seiner langjährigen Anstrengungen ernten konnte. Bald vertrug er das nasskalte Klima von Cambridge nicht mehr und bekam eine Tuberkulose. Eine adäquate Behandlung gab es damals dafür nicht. Die übliche Therapie bestand darin, die Kranken zu jeder Jahreszeit der frischen Luft auszusetzen. Noch nicht einmal bei Engländern, die das Wetter von Geburt an gewohnt waren, war das besonders erfolgreich. Erschwerend kam die durch den Ersten Weltkrieg verursachte schlechtere Lebensmittelversorgung hinzu. Ramanujan war immer ein praktizierender Hindu und deshalb konsequenter Vegetarier. Unter den damaligen Umständen musste eine reine Kohldiät wohl zwangsläufig zu einer schlimmen Mangelernährung führen. Nach dem Ende des Krieges schaffte es Ramanujan noch, nach Indien zurückzukehren. Dort starb er am 26. April 1920 mit zweiunddreißig Jahren an seiner Schwindsucht. Die Zeiten ändern sich und manchmal sogar zum Besseren. Zwar wird die Welt immer noch vom christlichen Verein alter Männer dominiert, aber ein schwarzer Michelangelo, ein weiblicher Churchill und eben auch ein indischer Gauß sind zumindest denkbar. Ramanujan hat seinen Platz in der Ruhmeshalle gefunden.

Ein besonderes Interesse für Mathematik ist nicht erforderlich, um Kanigels Ramanujan-Biographie mit Gewinn zu lesen. Das Buch beschäftigt sich mit dem Leben von Ramanujan und Hardy. Tiefliegende mathematische Ergebnisse kann man Laien nur schwer erklären, und der Verfasser hat sich lobenswerterweise auf einige Andeutungen beschränkt. Es ist aber natürlich so, dass die reine Mathematik, die nur des freien Laufs der Phantasie bedarf, um gewaltige Denkgebäude aus dem Nichts zu schaffen, ganz spezifische Persönlichkeiten hervorbringt. Man lernt bei der Lektüre des Buchs etwas über die unterschiedlichen Lebensumstände in Indien und England zu Beginn unseres Jahrhunderts, aber man verfolgt auch, wie zwei Menschen aus diesen grundverschiedenen Kulturen ein gemeinsames übergreifendes Interesse teilen.

Die Übersetzung ist adäquat, wurde aber wohl relativ schnell angefertigt. Mitunter stört eine unnötige Nähe zum amerikanischen Original. Einem bücherlesenden Mitteleuropäer muss man nicht erklären, wo Jersey liegt (Seite 31). Statt von 342 Quadratmeilen (Seite 13) sollte mart aber ruhig von 885 Quadratkilometern reden, zumal kurz vorher auch das metrische System verwendet wird. Vom Vieweg Verlag hätte man sich weniger Druckfehler und einen ästhetischeren Formelsatz erhofft. Der verwaiste Relativsatz des Titels klingt eher albern.

ERNST HORST
Robert Kanigel: "Der das Unendliche kann- te". Das Leben des genialen Mathematikers Srinivasa Ramanujan.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Albrecht Beutelspacher. Vieweg Verlag, Wiesbaden 1993. VIII, 331 S., Abb., Karten, geb., 58,- DM.


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